Kann ich mich lieben wie mein Kind?

Mit bedingungsloser Liebe sehe ich meinen Sohn an, halte ihn. Wenn er fällt, bin ich sein Beschützer, wilder Spielgefährte. Und wo ich es nun gewohnt bin, mit dieser bedingungslosen Liebe ihm zuzusehen, entdecke ich in all dieser Erfüllung eine Leere in meinem Leben. Als hätte ich in der hintersten Ecke meines Zimmers einen Schrank entdeckt, weil ich zum ersten Mal die Vorhänge öffne, Licht hereinlasse. In all dem Licht, das mein Sohn in mein Leben bringt, sehe ich mir ein Foto von mir in seinem Alter an. Meine Frau hat es an die Magnettafel unserer Küche geheftet, wie ein stilles Liebeslied über unseren Sohn – meinen Klon. Und beim Anblick zucke ich zusammen, als hätte ich an der Wand unserer Küche ein vergessenes Kind entdeckt.

Nicht wegen der Ähnlichkeit unserer Gesichtszüge. Sondern weil ich diesen kleinen, lächelnden Kerl nicht mit derselben bedingungslosen Liebe ansehe. Es ist, als hätte Samuel mir das Lieben beigebracht und nun merke ich, was ich all die Jahre mit mir selbst gemacht habe.

Selbstliebe ist die Art, wie ich mit mir umgehe

Ich habe mich an Ergebnissen gemessen, an Leistungen, an Leidenschaften. Habe mich geliebt, wie ich mein Auto liebe. Und klappte etwas nicht, habe ich mich gehasst wie ein kaputtes Telefon, das während eines wichtigen Gesprächs nicht mehr seinen Dienst tut. Dieses unbeschwerte Lächeln – es ist aus meinem Gesicht verschwunden.

Uns trennt nicht viel, meinen Sohn und mich. 34 Jahre Lebenserfahrung, ein paar Kneipenbesuche, mit dem Rauchen aufhören. Wie kann ich denn so gut zu ihm sein und zu mir eben so? So neutral, so nüchtern. Ich bin erschrocken über meine Kälte, die ich für Wärme hielt. Ich hoffe, der kleine Junge in mir kann mir verzeihen. Er ist noch da, wenn ich im Keller spiele, etwas baue, entdecke, Musik mache, mal kurz frei von Effizienz und Ehrgeiz bin. Ich hoffe, ich kann mich besser behandeln. Auch für meinen Sohn, denn ich will ihm nicht nur ein Vater sein, sondern ein Freund.

Ein echter Freund, der nicht erwartet, dass er mich glücklich macht und der ihn deswegen nicht ausnutzt. Ihm zuhört. Ihn nicht zum Objekt seiner Bedürfnisse macht; nach Anerkennung, Liebe. Ich will so sein, wie dieser lächelnde Junge auf dem Foto an der Küchenwand. Will ihm helfen, sich zu entfalten, anstatt zu kämpfen. Dieser lächelnde Junge braucht nichts von seinem Sohn – und er kann ihm alles geben. Als Beschützer, wilder Spielgefährte, Freund, Vater.

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