Warum kann ich mir selbst nicht helfen? Weil ich denke, dass ich nicht gut genug bin

Es gibt so viele Probleme auf der Welt, und für alle wüsste ich eine Lösung. Komisch: Nur nicht für meine Probleme. Meine Ängste, Sorgen, Stress, ungesunden Gewohnheiten, sie bleiben. Was hält mich davon ab, mir zu helfen, Pläne zu entwickeln, mir Rat zu geben? Der Gedanke, dass ich nicht gut genug bin. Was dieser Gedanke mit mir macht und wie ich diesen Glaubenssatz auflöse.

„Alles ist wichtiger als ich“

Irgendwann habe ich gelernt, dass andere Dinge wichtiger sind als ich. Die Sorgen meiner Eltern, die Angelegenheiten der Welt. Ich bin darin nur ein kleines Rädchen, ein Winzling, der keine Rolle spielt. „Wie kann ich Mama helfen? Ich muss einen Weg finden!“ Dieser innere Dialog markiert das Ende meiner Beziehung zu mir, und den Anfang einer Reihe von unzähligen Entscheidungen für andere und gegen mich.

Ich habe gelernt, dass alles und jeder wichtiger ist als ich. Ob es nun der Drängler auf der Autobahn ist, die Spedition, die meinen Holzboden zerkratzt, meine ungeduldige Freundin, mein ungeduldiger Hund – ich bin im Hamsterrad und strample mich für die anderen ab. Will ihnen bloß nicht auf die Füße treten, am Ende sind sie noch unglücklich! Und ich? Scheiß drauf.

Weiter im Hamsterrad. Ich müsste bloß aufhören zu strampeln und in Ruhe weiterlaufen, aber das ist nicht im Programm.

Ich bin so weit weg von meinen Bedürfnissen, ich weiß schlicht nicht, was ich will. Durch den Kopf schwirren ein Haufen Einfälle, was zu tun wäre, sogar Dinge, die Spaß machen könnten. Und natürlich Sachen, die lästig sind aber erledigt gehören. Und diese Ideen türmen sich auf, morgens wenn ich wach werde stapeln sie sich in meinen Gedanken.

Es fühlt sich an, als wäre alles wichtiger als ich.

Ich mache aus meinem Frühstück eine anstrengende, komplizierte Aufgabe, spiele durch, welche Zutaten alle rein müssen, damit es perfekt ist. Alles wird zum Stress.

Und dann kommen da sofort die Anforderungen von außen – die unerledigten Aufgaben für andere, die Sorge, ob meine Partnerin gut versorgt ist, und natürlich nimmt sie bereitwillig meine Vorschläge und Angebote an. Kaffe machen. Müll rausbringen. Spülmaschine ausräumen. Kurz fühle ich mich von Nutzen – dann beginnt wieder die Hektik; was soll ich nur zuerst tun? Es ist so viel zu erledigen!

Das Ergebnis: Ich kann nicht mit mir zufrieden sein

Ich muss stehen bleiben. Die Enge in meiner Brust spricht Klartext. Noch versuche ich, mich weiter zu zwingen. Gut genug zu sein. Es allen Recht zu machen, und dabei bin ich schnell so überfordert, weil ich es so sehr will, dass ich langsam werde. Es fällt wahrscheinlich gar nicht mehr auf, dass ich den ganzen Tag nur funktioniere und fast nichts aus Genuss tue. Ausgenommen die Momente, in denen ich mich in meine Arbeit vertiefe oder in der Werkstatt etwas baue.

Ich komme nur in meiner Arbeit vor.

Ich bin nicht gut genug, ist das wirklich wahr?

Wie gerne wäre ich ein Egoist. Vielleicht bin ich einer, aber einer mit schlechtem Gewissen, das niemals verschwindet. Ich pendle vor und zurück, zwischen meinen Leidenschaften und allem, zu dem ich mich gezwungen sehe. Ich mache nichts für mich, und wenn ich etwas für mich mache, muss dabei etwas herauskommen. Viel!

Ich brauche nicht den Stolz und die Anerkennung anderer – ich brauche das Gefühl, dass ich gut genug bin. Und jeden Tag, nach jeder vollbrachten Tat wird es schwerer, dieses Gefühl wiederzuerlangen. Das Loch zu stopfen.

Ich bin wie ein Drogensüchtiger, der sich selbst beweisen muss, dass er gut genug ist

Aber ist das wirklich wahr, dass ich nicht gut genug bin? Kann ich absolut wissen, dass ich nicht gut genug bin, während ich in meiner Küche stehe und uns Frühstück machen will?

Vielleicht will ich ja viel zu viel von mir. Vielleicht bin ich der größte Perfektionist, der jemals auf diesem Planeten gewandelt ist (abgesehen von allen Lesern, die sich an dieser Stelle gleichermaßen angesprochen fühlen). Vielleicht habe ich schon unglaublich viel erreicht und sehe es nur nicht, weil ich bloß nach vorn schaue und nicht links, nicht rechts.

Meine Füße sollten immer schon woanders stehen, weiter vorn, da, wo ich hin will. Vorm Kühlschrank. Vorm gemähten Rasen. Vorm Reichtum. Aber sie stehen hier. Das ist ein Problem, denke ich.

In Wirklichkeit töte ich mich psychisch mit dem Gedanken, dass ich nicht gut genug bin. Und wie sehr ich mir damit schade, merke ich an Tagen, wo mir die Kraft fehlt, dem Wahnsinn nachzugehen. Wo ich kaum Luft bekomme vor Hetze.

Wer wäre ich ohne den Gedanken, dass ich nicht gut genug bin?

Zärtlich. Zu mir.

Zufrieden. Mit mir.

Ich würde mir erlauben, mich zu spüren.

Ich würde das Gewicht meines Körpers unter meinen Füßen spüren, während ich vor der Küchenzeile stehe. Ich würde in mich hineinfühlen, welches Frühstück mein Körper gerne hätte. Ich spüre den Appetit. Es wäre nicht schlimm, wenn mir nichts einfiele. Vielleicht würde ich eine kleine Runde durch den Garten drehen und mich freuen, dass dieser Tag begonnen hat. Ich wäre geduldig mit mir.

Ich müsste nicht weiter sein als ich bin.

Ich hätte ein riesiges Guthaben aus erledigten Aufgaben, das mir erlaubt, mir so viel Zeit zu lassen wie ich will.

Ich würde vielleicht über mich selbst ein wenig schmunzeln, dass ich zwar ganze Unternehmen aufbauen kann, aber mit so einer einfachen Sache wie einem Müsli überfordert bin. Vielleicht würde ich dann einfach schauen, ob noch Nüsse da sind. Vielleicht würde ich einfach das Mittagessen von gestern aus dem Kühlschrank holen.

Ich würde mich leiten lassen. Von der unsichtbaren Hand, die mich hier hergebracht hat. Ich müsste die Situation nicht mehr kontrollieren.

Ich hätte mehr Vertrauen in mich, in meine Fähigkeiten, wäre gespannt, was ich als nächstes tue. Ich würde mich wohl fühlen in meiner Haut. Und ich müsste nicht alles perfekt im Voraus planen. Mein Leben wäre eine Überraschung, in jeder Sekunde, und ich wäre bereit sie anzunehmen.

Und ich bin mir sicher, dass es bei dir genau so ist.

Ich bin gut genug, weil es in diesem Moment nichts zu tun gibt.

Wir sind gut genug, weil wir hier sind. Ich meine, wie viele Menschen mussten geboren werden, damit wir jetzt hier sein können? Millionen, Milliarden.

  • Ich bin gut genug, weil ich so anspruchsvoll bin, mehr von mir verlange, als ich jemals leisten könnte.
  • Ginge es nach meinen Gedanken, müsste ich der reichste Mensch der Welt sein, der immer wüsste, was zu tun ist. Der immer genug Energie hätte der niemals müde wäre. In jeder Sekunde spielten die Trompeten ein Loblied auf ihn, und in jedem Moment ginge sein Leben auf, wie auch immer das aussehen soll.

Außer in meiner Phantasie existiert so ein Gidon aber nicht. Es gibt nur einen für mich. Und der ist alles, was er hat. So wie du alles bist, was du wirklich hast.

Und wenn er glaubt, er sei nicht gut genug, dann vergisst er alles, was er bereits erreicht hat, wie gut er es meint – dass sein Leben nicht dazu da ist, nur eine Aufgabe nach der anderen zu erledigen und jeden Tag besser zu werden. Er vergisst, dass das Leben dazu da ist, dass er jetzt und hier steht, sitzt, liegt; und das Leben wartet drauf, was er daraus macht. Es stellt keine Forderungen an ihn. Das macht er selbst.

Und die anderen? Ich muss doch für sie da sein, oder?

Ein Freund wurde neulich sauer als ich zu ihm sagte: Alles entscheiden wir selbst. Die gesellschaftlichen Zwänge seien keine, wenn ich mir bewusst mache, dass ich am Ende entscheide, was ich tue und lasse. Er fragte ärgerlich, was mit den Menschen sei, denen ich einen Scherbenhaufen hinterließe, würde ich einfach nur das tun, was ich will.

Heute denke ich mir: Es muss ja nicht gleich ein Scherbenhaufen sein. Aber ich verwandle mein ganzes Leben in einen Trümmerhaufen, wenn ich es mir zur Hauptaufgabe mache, es allen Recht zu machen – um dann nicht mehr genug für mich tun zu können! Wurde ich wirklich dafür geboren?

Wurdest du dafür geboren?

Wer in mich reinhorchen könnte, bekäme vielleicht den Eindruck: ja, dafür wurde er geboren. Aber die Depression in jedem Moment, in dem ich dieses Prinzip der Selbstaufgabe perfektioniere, und die Erschöpfung, sie watschen mich wach und zeigen mir: das ist nicht der Weg.

Von heute auf morgen wird der Gedanke nicht verschwinden, dass ich nicht gut genug bin. Er ist eine der ältesten Geschichten meines Lebens. Jeden Tag finde ich neue Beispiele, warum ich gut genug bin.

Ich bin gut genug, um langsam zu sein.

Ich bin gut genug, um nicht zu verstehen.

Ich bin gut genug, um mich komisch zu fühlen. Um traurig sein zu dürfen, um die Mundwinkel bis zum Kinn hängen zu lassen.

Und ich bin gut genug, um den ganzen Tag zu lächeln, nur für mich!

Ich bin gut genug, um mir in Ruhe zu überlegen, was ich gerne essen möchte.

Um meinem Partner zu sagen, dass ich heute Zeit für mich brauche.

Ich bin gut genug, um faul zu sein, um nichts zustande zu bringen.

Ich bin gut genug, um 80 zu fahren auf der Autobahn.

Um andere wütend zu machen, um sie warten zu lassen, um sie zu hetzen.

Ich bin gut genug, um mich mies zu fühlen, und trotzdem weiterzuleben.

Ich bin gut genug, um ein Egoist zu sein, um nur an mich zu denken.

Ich bin gut genug, um mich an erste Stelle zu setzen.

Ich bin so gut, mein Körper darf krank sein, und er darf gesund sein.

Ich bin gut genug, um mir und anderen ein gutes Leben zu gestatten. Ich bin gut genug, um nicht besser sein zu müssen; nicht mehr haben zu müssen als andere. Ich bin gut genug, um andere nicht kontrollieren zu müssen.

Ich bin gut genug, um gütig zu sein.

Und du bist es auch. Wetten, dass?

Schreibs mir in die Kommentare: Wozu bist du gut genug?

1 Kommentar
  1. H.
    H. sagte:

    Ich BIN gut genug um mit einem Demenzkranken umzugehen, so gut ich es kann
    Ich BIN gut genug, auch wenn ich im Schnitt 1x/Tag explodiere
    Ich BIN gut genug, um mir GUTEN Gewissens immer wieder Momente/Stunden/Tage der Auszeit zu nehmen
    Ich BIN gut genug, um ihn in SEINER Welt zu lassen wenn er mich nicht versteht
    Ich BIN gut genug, weil ich immer wieder Hilfe vom Universum bekomme – vor allem auch durch Menschen denen ich einmal helfen konnte

    Antworten

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