Was will mir mein Körper sagen? Was lerne ich aus Angst und Schmerz?

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Morgens waren die Schmerzen am schlimmsten. Mein Kopf fühlte sich dann an, als hätte sich alles Blut und Wasser meines Körpers in meinem Kopf gesammelt und als müsste nur jemand einen Wasserhahn oder ein Ventil öffnen, damit alles unter Hochdruck aus mir heraus spritzen könnte. Aber es gab keinen Wasserhahn. Es gab nur diesen drückenden Schmerz, gegen den keine Tablette und auch keine Spritze half. Warum war diese Zeit in Wirklichkeit das Beste, was mir passieren konnte? Weil sie mich gelehrt hat, nach meinem Gefühl zu leben.

Dem Schmerz nachgeben

An einem dieser Morgen saß meine Mutter am Rand meines Bettes und sah mir besorgt zu, während ich vor mich hin ächzte. „Wenn ich jetzt sterben würde, wäre das nicht schlimm“, sagte ich leise. Und ich meinte es ernst. Der Gedanke an das Ende war angenehm. Ich gab mich langsam geschlagen und hörte auf zu kämpfen. Es war die dritte Woche mit dem Schmerz und ständigem Erbrechen, und ein Ende war einfach nicht in Sicht. Mit 17 Jahren erfuhr ich, was es heißt, dem Schmerz nachzugeben. Ich war bereit zu allem, damit er aufhörte.

Eine zweite Chance

Die Ärzte fanden die Zyste in meinem Kopf. Sie fanden die Stelle, dort wo andere den Seitenscheitel tragen, an der sie den Knochen kreisförmig aufsägen und mit einem langen Instrument das kleine Geschwulst aus der Mitte meines Gehirns holen konnten. Sie fanden eine Lösung für mich. Ich wachte nach einer achtstündigen OP auf. Um mich herum stand meine Familie, und ich blickte entgeistert in die Runde und fragte: „Wurde ich schon operiert!?“ Ich war völlig verwirrt. Und der Druck in meinem Kopf war weg.

Aber die eigentliche Befreiung kam erst noch, der meiste Druck war noch da und ich musste mich meinen Ängsten und Befürchtungen stellen. Und ich musste mehr dafür tun, als dazuliegen. Ich musste mich trauen, das Risiko einzugehen, jemand anders zu enttäuschen. Meine Wünsche über die eines anderen zu stellen, damit ich mein Leben wieder genießen konnte. Denn das Leben hatte mir eine zweite Chance gegeben und ich dachte gar nicht daran, die nicht zu nutzen.

Endlich auf mein Gefühl hören

Ich wusste plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich war so dankbar für meine zweite Chance, dass ich sie nicht mit halben Sachen oder Beziehungen verschwenden wollte, die mir nicht gut taten. Die Beziehung zu meiner damaligen Freundin war so eine. Sie hatte mich nicht einmal im Krankenhaus besucht und wartete wahrscheinlich schon darauf, dass ich wieder zu ihr fahren würde, um mich dort zu fügen. Um mit einer Schaufel Pferdescheiße aus Boxen zu räumen und dafür auf die Anerkennung ihrer Eltern zu hoffen. Um meine Band vor einem Auftritt sitzen zu lassen, um, anstatt mit Gänsehaut auf der Bühne zu singen, mit Magenschmerzen vor ihrer schreienden Mutter zu stehen.

Ich musste mich aus dieser fünfjährigen (selbstverschuldeten) Irrsinnsfahrt befreien, aus der ich nur nicht ausgestiegen war, weil ich mir selbst im Grunde egal war. Das merkte ich erst jetzt. Und jetzt, nachdem mir das Leben wieder geschenkt wurde, war ich mir nicht mehr egal. Weil ich gemerkt hatte, wie kostbar mein Leben ist. Wie gern ich es mit etwas Schönem füllen möchte.

Abschied nehmen, um zu mir Nachhause zu kommen

Ich liebte mein Leben wieder. Also schaffte ich es an einem denkwürdigen Abend, auszusteigen; die Autotür zu öffnen, und meine schluchzende Bis-gerade-noch-Freundin hinter mir zu lassen. Ich setzte einen Fuß nach dem anderen und ging zurück ins Haus. Als ich durchs Küchenfenster ihr Scheinwerferlicht sah und hörte, wie sich die Reifen durch den hohen Kies vorm Haus wühlten und langsam leiser wurden, hatte ich die vielleicht wichtigste Entscheidung meines Lebens getroffen und zu ihr gestanden. Die Entscheidung, mein Leben wieder zu entdecken, anstatt den Vorstellungen anderer gerecht werden zu wollen.

Ich gab meinem inneren Ruf nach, Journalist zu werden, statt Landwirt für eine Frau und ihre Familie, mit der ich niemals glücklich werden würde.

So sehr war ich mir selbst egal, dass ich meinen Traum fast aufgegeben hätte. Ich hatte nicht auf mein Gefühl gehört, hatte immer weiter gemacht und mich permanentem, fast unerträglichem Druck ausgesetzt. Ich hatte den Schmerz ignoriert, bis er so groß wurde, dass ich im Krankenhaus daran hätte sterben können. Ich bin mir heute fast sicher, dass die Zyste in meinem Gehirn nur die körperliche Konsequenz meines inneren Zustands und meines Lebens in diesen fünf Jahren war. Zumindest war sie ein (nachträglich) willkommener, wenn auch schmerzlicher Weckruf.

Ich konnte nirgendwo hin, solange ich in dieser Beziehung war, solange ich mein Leben nach den Vorstellungen anderer lebte und um ihre Anerkennung kämpfte. Und genauso konnte die kleine Zyste in meinem Kopf nirgendwo hin, und der Druck wurde immer größer.

Wenn sich eine Lawine löst…

Seitdem war ich im freien Fall. Es war aufregend, aber auch schrecklich, überraschend gut und ernüchternd und riskant. Ich verfolgte meine Ziele wie ein Besessener. Und ich durfte auch hier wieder lernen. Ich ignorierte meine jahrelangen Panikattacken, lenkte mich mit meiner Arbeit ab. Auch von meinen vielen Verstimmungen, an die ich mich gewöhnt hatte und die mir gar nicht mehr auffielen. Erst, als ich dann genau zehn Jahre nach meiner Gehirnoperation in der nächsten Sackgasse angekommen war, konnte ich auch meinen seelischen Schmerz nicht mehr ignorieren.

Ich hatte ihn jahrelang versucht, weg zu therapieren, weg zu trinken, weg zu denken, und vor allem: weg zu arbeiten. Ich musste dem Schmerz nachgeben und lag in meinem Bett, matt, unfähig, auch nur eine Zeile zu schreiben. Ausgebrannt von Jahren des Rennens, von niemals stehenbleiben.

Wieder am Ende – wieder am Anfang

Wie damals vor zehn Jahren, gab ich mich dem Schmerz also hin, legte die Waffen nieder in Form von Maus und Tastatur und war nur noch für mich selbst da. Ich saß auf Parkbänken und spürte die ganze Unruhe, die ich in den letzten Jahren in mir aufgestaut hatte. Diesmal war es kein Gehirntumor, dafür brannte mein Körper und zitterte vor Angst. Ich konnte auf keiner Bank länger als zehn Minuten sitzen. Dann musste ich weiter gehen. Gehen, gehen, gehen. Laufen. In mir drehte sich noch ein riesiges, schweres Schwungrad, das ich seit Jahren immer mehr beschleunigt hatte. Jetzt drehte es sich noch mit voller Kraft, aber ich konnte nicht mehr mithalten. Es kam nur ganz, ganz langsam zum Stehen und ich musste irgendwo hinlaufen, wenn nicht mehr in Richtung meiner alten Ziele.

Anstatt meine Gefühle zu ignorieren, hörte ich mit allem anderen auf, und hörte nur noch auf meine Gefühle.

Ich machte diesmal nicht mit meiner Freundin Schluss, ich hatte ja nichtmal eine. Ich machte mit dem in mir Schluss, das mich so leiden ließ. Dieser ewige Druck, an einem Ziel ankommen zu wollen. Diesmal war es nicht meine Ex-Freundin oder ihre oder meine Eltern, die mich vermeintlich unter Druck setzten, Landwirt oder Sattler oder in andererweise perfekt zu werden (in Wirklichkeit setzte natürlich ich selbst mich unter Druck, um den anderen zu gefallen). Diesmal war ich es ganz allein. Und in diesem Schmerz verabschiedete ich mich von meinen Zielen, von meiner riesigen Firma, von meinen wirren Vorstellungen, was doch alles nötig sei, damit ich dann endlich reich, glücklich, zufrieden sein würde.

Abschied von meinen Vorstellungen nehmen, um zu mir selbst zu finden

Das Problem war nur: Ich verabschiedete mich damit von mir selbst, von dem, was ich bisher für mich selbst gehalten hatte. Denn ich war gleich meine Arbeit, gleich meine Ziele, gleich meine unternehmerische Vision. Hatte mich jahrelang nur noch damit gleichgesetzt. Mich nur noch damit identifiziert.

Es gab keinen Chirurgen, der eine Zyste aus mir herausholte. Stattdessen fühlte es sich an, als hätte mir jemand meine Knochen, mein Gehirn (bis auf das Angstzentrum) und meine wichtigsten Organe entnommen. Von mir und meinem Leben war nichts mehr übrig – von dem, was ich bis dahin als mein Leben empfunden hatte. Meine Tochter war natürlich noch da – aber 200 Kilometer entfernt. Meine Familie war noch da. Meine Freunde waren es. Meine Talente. Meine Leidenschaft fürs Schreiben. Aber meine Welt, meine Zukunft war weg. Und ich war froh darüber.

Ich konnte mit meinem alten Leben nichts mehr anfangen. Trotzdem irrte ich wie ein Zombie durch den damals gerade aufblühenden Frühling und war nur noch ein Schatten von dem Mensch, der ich mal war. Da waren Erinnerungen. Da waren meine Überzeugungen und Wünsche. Aber alles war so weit weg, dass es mehr wie ein schlechter Film, weniger wie mein vergangenes Leben wirkte.

In mir war nur noch Schmerz. Und ich gebe diesem Schmerz nach, bis heute. Muss ich, kann nicht mehr anders. Kann ihn nicht mehr ignorieren und einfach weitermachen. Ich schreibe mir auf, was mich so traurig oder ängstlich macht. Ich frage mich: Ist das wirklich wahr? Ich frage mich, wer ich wirklich bin. Ich entwickle einen Blick dafür, wer ich wirklich bin. Schaue zurück auf mich, statt nur auf das, was diesen Körper umgibt.

Ich lerne ein neues Leben kennen, und noch rollt die Lawine, die damals vor bald 13 Jahren abging. Und ich weiß, dass jede Idee von meinem Leben nur eine Geschichte ist. Es ist alles nicht so wichtig, wie es scheint, wenn du nach drei Wochen starker Kopfschmerzen und Erbrechen im Bett liegst und nur willst, dass der Schmerz aufhört. Dann scherst du dich nicht mehr darum, was andere über dich denken.

Ähnlich ist es, wenn du emotionale Schmerzen hast. Es ist alles nicht so wichtig, wenn die Angst größer wird. Immer größer. Dann wendest du dich vielleicht nach innen und fängst an, in dir nach einer Lösung zu suchen. Weil du nicht mehr weglaufen kannst. Weil du merkst, dass du dich damit beschäftigen musst, um endlich frei zu sein. Dann werden Gefühle zu einem Wegweiser, mögen sie anfänglich noch so unangenehm sein. Du fühlst schon, was du brauchst. Und dann gehst du nach einiger Zeit fast automatisch in die richtige Richtung. In die für dich richtige Richtung.

 Dann fängst du an, auf Dein Herz zu hören. Du musst. Oder du stirbst. 

Titelbild: Pexels

Bild 2: SarahRichterArt

Bild 3: Pixabay

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