Das System

Es gibt ein System. Ich kann ihm keinen Namen geben – wenn ich es benenne, wechselt es sofort seine Form. Es greift an: in deinem Kopf, mit dem, was du gelernt hast. Meine Worte werden bedeutungslos für dich. Das System ist überall. 

Es unterscheidet sich von dem, der es betrachtet. Er, der einzelne, ist nichts in diesem System. Er ist im System. Er ist eine seiner Nummern. Eine Adresse. Ein Gesicht ohne Bedeutung. Eine Stimme unter vielen, als Flehen oder Angreifen. Alles was der einzelne sagt, ist morgen vergessen. Der einzelne ist nichts, wenn alle ans System glauben.

Was das System sagt, gilt. Und es sagt nicht viel. Es wächst. Es zerstört nicht, es lässt vergessen. Es frisst. Alles. Seine Feinde sind allein. Deswegen stellt niemand in Frage, was es sagt. Was es will. Was es macht. Nur, was es ist. Es ist da, aber jeder sieht etwas anderes darin.

In Wirklichkeit sieht niemand, was das System macht. Die Dinge passieren im Namen einer Million Gründe. Einer Million Einzelfälle. Und so sind die Menschen abgelenkt von diesen Millionen und Milliarden Gründen, den Schatten des Systems. Verwirrt von den unzählbaren, leisen und lauten Echos des Systems. Auch wenn die Resultate unübersehbar sind.

Jeder kennt sie. Aber jeder benennt sie anders. Jeder nennt sie anders.

Jeder sieht etwas anderes. Jeder sieht irgendetwas. Alle sehen nichts. Das macht das System unverwundbar, unantastbar, erhaben über jeden und alles.

Die Wahrheit, das Gute, das Recht ist die Waffe des Systems. Besonders die Zweifler nähren das System mit ihrer Uneinigkeit, und alle zweifeln im Namen der Wahrheit, des Guten, des Rechten. Im Namen der Wahrheit schreien, töten und retten alle. Im Namen der Wahrheit rufen die Vertreter, Schützer und Gegner des Systems ihre Parolen. Was passiert, entscheidet keiner mehr. Was passiert, passiert; weil es passieren muss.

Niemand lebt noch in dieser Welt. Alle sterben. Alle sind leise, immer leiser, sie atmen flacher, immer flacher und laufen immer schneller, oder sie liegen. Sie liegen einfach da. Gehen anderen für immer aus dem Weg.

Im Rausch erinnern wir uns: ein vertrauter Geruch, ein ganzes Leben, eine Idee liegt uns auf der Zunge. Wir nehmen noch einen Schluck. Schluck. Keiner weiß mehr etwas. Jeder meint. Jeder zweifelt. Niemand traut sich mehr, seine Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist teuer. Niemand will sehen, was wirklich passiert. Jeder will an das Gute glauben. Das System ist wahr. Es gilt. Hast du verstanden?

So viele, wirklich fast alle kennen ihre Wahrheit nicht, sie sind arm. Alle sind verwirrt. Alle leben vom System, obwohl es von ihnen lebt.

Und die, die ihm nichts geben, die nicht von ihm leben, sie sterben. Sie können nirgendwo hin. Niemand wird sich an sie erinnern. Sie dürfen verschwinden. Sie werden so tot sein, so sterben, so verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Niemand hat sie je gehört.

Und die, die noch leben, sind nicht da. Sie sind nicht vernetzt. Über sie hörst du nur Geschichten. Du weißt nicht, ob sie gerade sterben oder geboren werden, ob sie gefoltert werden oder fliehen, ob sie vergewaltigen, vergewaltigt werden oder in der Sonne liegen. Ob sie atmen, ob sie je wieder sprechen. Sie sind bloß Echos. Sie sind ein Bild in deinem Kopf. Sie sind ein Thema. Ein Thema der Woche.

Das System rechnet mit ihnen. Es begrüßt sie. Es tötet sie. Niemand will das sehen. Alle hassen sich dafür, was das System tut. Sich selbst, andere. Im System ist der Mensch schlecht, aber es selbst ist gut. Menschen töten sich, um sich besser zu machen, um dem System zu dienen. Um glücklich zu sein. Alle finden einen Feind, jemanden, der Schuld hat. Niemand ist so gut, wie er sein sollte. Und das System, es ist perfekt.

Wenn es scheitert, scheitern in Wirklichkeit doch Menschen! Wenn sie nicht besser werden, soll niemand überleben. Diese Schuldigen, diese schlechten Menschen sind der lebende Beweis für das Schlechte in der Welt. Wie sehr wir sie hassen. Sie haben das System nicht verstanden, sie haben es für ihre Zwecke missbraucht.

Die Welt soll lieber brennen, als ohne das System zu existieren. Alle Tiere wissen das.

Die Sterne schauen ruhig zu. Wie eine Erinnerung an die Vernunft, die hier nicht mehr wohnt.

Alles funktioniert wunderbar. Nur ein paar wissen das. Sie lieben das System. Sie schlafen gut. Sie leben Perfektion. Nur ein paar Probleme. Das System braucht sie, mehr als die meisten. Der einzelne zählt nicht, er zahlt. Er tut, was er soll. Er darf alles, was er soll. Er muss alles, was er soll. Was abfällt, wäre genug für alle, nur ein paar dürfen es behalten. Die anderen müssen geben. Das System nimmt. Und alle glauben, sich selbst etwas zu schenken. Sie trinken Salzwasser. Sie fressen sich selbst.

Das System muss sich nichts verdienen. Es verdient alles. Es schuldet keinem etwas. Jeder schuldet ihm alles.

Niemand hat es erschaffen. Niemand kann es zerstören. Niemand will es zerstören. Niemand kennt es wirklich. Fast keiner sieht es wirklich. Aber alle glauben an irgendetwas. An alles. An nichts. Ans kleine Glück – ans große Gewinnen. An die große Veränderung. An Revolution.

Niemand will es vergessen.

Einfach vergessen.

Alle glauben an das System.

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